Ich denke oft an Ibrahim

Ich denke oft an Ibrahim. Ich habe ihn heute noch vor Augen. Dieser drahtige alte Mann hatte ein Gesicht, wie man einen Kurden malen würde: dichte graue Haare, tiefe Falten, markante Züge und ein gerader, klarer Blick. Nun hockte er am Fuß eines Baumes am Rande des Bürgersteigs und sinnierte in den trockenen Rasen vor sich. Es war gerade Pause eines Sprachkurses, an dem Ibrahim teilnahm. Der resignierte Mann am Baum musste Deutsch lernen. Und dabei konnte er noch nicht einmal lesen und schreiben. Das hatte er nie gebraucht, um ein erfahrener Gärtner zu sein. Und dennoch: ein kluger, lebenserfahrener Mann.

Seine Kinder brauchten das und haben es bekommen. Er hatte zwei hinreißende Kinder. Eine bezaubernde, lebenslustige, blitzgescheite 17-jährige Tochter und einen sensiblen, empathischen, zarten, wachen Sohn. Beide erhielten in Kurdistan eine gute schulische Ausbildung.

Es muss einen Morgen gegeben haben, an dem dieser kluge Mann, das unangefochtene Oberhaupt der Familie, seine Kinder und seine Frau weckte und sagte: „Wir brechen auf!“ Und widerspruchslos griffen sie zu ihren Rucksäcken und machten sich auf den Fußweg nach Deutschland.

Und jetzt saß Ibrahim an einem Baum auf der Rabatte eines Fußwegs in Deutschland, rupfte ein paar Gräser aus dem Boden, ließ sie im Wind verwehen und raffte sich auf, um in den Sprachunterricht zu gehen. Und er wird sich wohl gedacht haben: „Das ist der Preis, den zu zahlen ich bereit war.“

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